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8 Friede in der Zelle

Achtes Kapitel

Friede in der Zelle

Am Morgen nach dem schauerlichen Brande auf Schwabeck wehte herbstlich und kalt der Wind durch das seiner schönsten Zierde beraubte Erlental. Schauerlich wirbelten, wie entfesselte Burggeister, die grauen Rauchsäulen aus den schwarzen Ruinen in die düstere, nebelumflorte Höhe des Himmels. Lautlos und menschenleer trauerte die Gegend. Nur hie und da mäckerte eine Ziege, die am Abhang des Schloßhügels ihr spärliches Futter suchte. Und der Hirtenknabe, der, eingehüllt in eine wollene Decke, unter der großen Buche im Wiesengrunde saß, schaute gedankenlos in das zerstörte Wohngebäude eines altadligen, berühmten Rittergeschlechtes. Dohlen kreisten wild ächzend durch die Luft, vergebens die hundertjährige Turmspitze suchend, den gewohnten Aufenthalt ihrer zahlreichen Bruten.

Am Eingang in den tiefen, stundenlangen Eichenwald stand Simon, der alte Schloßvogt, müde und entkräftet hingelehnt auf seinen großen, knorrigen Wanderstab. Eine schwere Träne wollte sich der graubehaarten Wimper entwinden, als er emporblickte an die Stätte, die vierzig Jahre lang ein ruheseliges Obdach ihm verliehen Und endlich löste sich der Schmerz der Trennung in folgendem Selbstgespräch: "Traurige Wahrheit, wie siehst du so herzzerreißend von jener zerrütteten Höhe herab in das herbstliche, verwaiste Tal? Wahrheit, die du schon von so manchem weisen Manne der grauen Vorzeit ausgesprochen worden: Die Wege des Menschen sind nicht in seiner Gewalt. Einer kommt durch das Feuer um, ein anderer durchs Schwert, einer durch die Pest, ein anderer wird totgeschlagen. Das Leben des Menschen wandelt wie ein Schatten dahin - und eitel Nichts sind seine Werke! - Da liegst du nun, schöne Ritterburg, du stolzes Schwabeck, Ruhm der edlen Grafen und Zierde des stillen Tales und der bunten Wälder! Ein Steinhaufen bist du, auf dem übers Jahr Disteln sprossen und die gelbe Blüte des giftigen Schöllkrautes! Und am Ende wird man nichts mehr von dir finden, als höchstens ein Erinnerungszeichen in den Jahrbüchern der gelehrten Herren von Augsburg! Keine bekannte Seele hab ich mehr getroffen, ausgestorben ist die Stätte, ein fürchterliches, ungeheures Grab! Liegt nicht die edle Gräfin Ludmilla unter dem Schutte? Und Gisela? Kein Mensch hat eine Spur entdeckt von den Bedauerungswürdigen! - Als ich beim frühesten Morgengrauen, wie ein mutloser Flüchtling, um die rauchenden Ruinen schlich, war es schreckenhaft still, daß es mir kalt rieselte durch Mark und Seele. Die etlichen Dienstleute im Schlosse waren schon in der gräßlich beleuchteten Nacht davon geflohen, ihre armselige Habe in die Hirtenhäuschen der Nachbarschaft zu retten. Da wagte ich es doch, mit dumpfer Stimme durch die Schwibbogen irgend ein ohnmächtiges Leben, das vielleicht unter den Quadern halbverschüttet lag, zum Bewußtsein zurückzurufen. Allein es kam mir kein Laut entgegen, als das schauerliche Echo meiner eigenen Stimme. Ich hörte nichts von Ritter Gäßler, den ich im Schloßhofe zum letztenmal gesehen; nichts von dem verschmitzten Fischveit und seinem vertrauten Schwarzkünstler. Wer in der Nacht, aufgeschreckt durch den eintönigen Schlag der Sturmglocken, aus den Dörfern gekommen war, zu helfen und zu retten - der hatte sich, die Unmöglichkeit beizuspringen einsehend, schon längst wieder davongemacht, die Unglücklichen, die das herbe Schicksal traf, der Gnade des Allbarmherzigen anempfehlend.

Was wollt ich allein noch länger an der Stätte der Verwüstung und des Jammers? Öde Burg auf jenem Hügel, lebewohl! Der alte Simon hat seinen Ruheplatz in dir verloren und ist gezwungen, nach dem Heimatfrieden von vierzig Jahren, den er dort oben genossen, die zitternden Füße hinauszusetzen ins unbekannte Land, an den Türen fremder Häuser, vielleicht oft unter den Flüchen hartherziger Menschen, sein Brot zu betteln. Doch nein, es fällt mir ein, daß ich Verwandte habe am Bodensee. Zu diesen will ich gehen, und so sie den alten Schloßvogt von Schwabeck erkennen, werd ich sie mit herzlicher Freude segnen bis zum Grabe. Noch einmal dann, lebewohl, du Stätte des Unglücks und ihr alle, die ihr unter den Trümmern begraben liegt, schlummert sanft und süß, bis einst die Stimme des allmächtigen Erweckers tönt! - Der Hirt, der nach Jahren seine Ziegen weidet über euren Gebeinen, singe auch ein tröstliches Grablied und erzähle seinen Enkeln unter den bewachsenen Ruinen der Burg von der ehrenfesten Vergangenheit des gräflichen Heldengeschlechtes Schwabeck! - Wenn ich aber einmal noch in meinem Leben diesen Hügel besteigen sollte, so geschehe es zu frommem Frieden und glückseliger Freude!"

Nach diesem traurigen Selbstgespräche wandte er dem Schloßhügel den Rücken und trat auf einem laubbestreuten, kotigen Hohlweg in den Eichenwald. So schnell es seine alten Füße vermochten, wankte er an dem Wanderstabe vorwärts, den Ausgang des schaurigen Gehölzes eher zu erreichen, als die Herbstsonne, die ihr Antlitz den Tälern so bald entzöge, in den Schoß des frostigen Abends sich anheim legen würde. Von seinen Lippen zitterte ein frommes Reisegebet. Und wenn hie und da durch die Lücke einzelstehender Eichen der nebeldichte Herbsthimmel hindurch schaute, konnte er nicht umhin, immer wieder das tränenfeuchte Auge hinanzuwenden, wo die Rauchwolken, wie aus einem gährenden Vulkan, die Herolde des Schreckens und Unglückes, über die Waldung höher, bald tiefer, hinüberwanderten. Eine Stunde war er rastlos fortgegangen - da stand er plötzlich still. Es war ihm, als hörte er den kläglichen Seufzer einer weiblichen Stimme. Er sah um sich und gewahrte erst jetzt, hier seitwärts im dichten Dornengebüsche sei die Stelle, an der er schon oft mit seinem Herrn und Grafen geständen - der verborgene Ausgang aus einem unterirdischen Gewölbe, das im großen Ahnensaale auf Schwabeck hinter dem Bildnisse des Schloßherrn beginne und hier unter gewaltigen Felsenstücken und Buchengehegen ins Freie sich ende. Ein seltsames Gefühl freudiger Ahnung durchbebte ihn - er eilte fürbaß hinan und sah - gerechter Gott! - die Gräfin Ludmilla, totenblaß in schwerem Schlafe, über der Schwelle der geöffneten Eisenpforte des Gewölbes liegen.

Festgebannt starrte er bei diesem überraschenden Anblicke an die Erde und rang im Gemenge von Mitleid und Freude die zitternden Hände. Mit einem Schrei des Entsetzens wollte er die Gebieterin erwecken. Aber sie verzog soeben die blassen Lippen im Traume zu den wehmütigen Worten: "Wernher! Teurer Wernher! Armer Ulrich! Arme Gisela! Arme Ludmilla! Schrecklicher Gäßler!"

Und ehrerbietig und in Gedanken vertieft, trat der alte Simon zurück und ließ die edle Gräfin in den Armen des Schlafes. "Denn," sagte er, "es ist besser, daß sie auf eine Stunde den Klagen des Traumes gehöre, als sogleich die ganze Last ihres furchtbaren Unglückes erkenne und fühle. Barmherziger Gott, sende ihr durch diesen Schlummer einen tröstenden Engel, der sie ausrüste mit Geisteskraft und stiller Ergebung in deinen göttlichen Willen!" Hierauf las er dürre Tannenreiser zusammen, errichtete in der Nähe einen kleinen Stoß, entlockte dem Feuerstein und Brennschwamm, welche Werkzeuge er immer bei sich trug, den knisternden Funken - und bald loderte die zischende Flamme, damit die Gräfin im leichten Nachtgewande beim Erwachen sogleich die erkalteten Glieder an der behaglichen Wärme der Kohlenglut erfrischen möge. Dann setzte er sich in einiger Entfernung nieder und sann hin und her über die Rätsel der verwichenen Nacht, vorzüglich, wie die edle Burgfrau hierhergekommen.

Ungefähr nach Verfluß einer halben Stunde bewegte sich Ludmilla - öffnete die müden Augenlider und sandte den Blick rückwärts in das schaurige Gewölbe, durch das sie hergekommen, dann hinaus in die Dämmerung des Waldes, wo sie keinen Ausweg vor sich hatte. Endlich flog das Auge über die zackigen Eichenäste, von denen das braune Herbstlaub niederrollte, hinauf in den hohen Himmel; und von den blassen Lippen lösten sich die vertrauensvollen Worte: "Du lebst noch, Allgerechter, du Vater deiner verlassenen, bis zum Tode betrübten Geschöpfe! Du wirst auch für mich einen Engel des Trostes haben! Oder doch einen Menschen wirst du mir schicken zu Rat und Hilfe, daß ich nicht verschmachte an dieser öden Stätte!"

Der alte Schloßvogt trat leise heran und flüsterte der Betenden zu: "Seid ruhig, edle Frau! Der Gott der Güte hat Euch schon einen Menschen geschickt! Ihr sollt nicht verschmachten! Seht hier den treuen Simon!" "Du hier? Du alter, lieber Mann!" rief die Gräfin und ein Lächeln der Freude, das erste nach so vielen in Angst und Schrecken durchlebten Stunden, stahl sich aus ihrem schmerzlich verstalteten Munde. Im Augenblicke aber kamen ihr die schauerlichen Ereignisse der Nacht zu Sinnen und sie fragte mit rascher Stimme, als ob sie die Verneinung ihrer Frage zu erwarten wünsche: "Redet, Schloßvogt, ist es denn wirklich so geschehen? Der Brand um Mitternacht? Die Bosheit des wilden Ritters? Ist es wahr? Oder hat mich der böse Geist eines Nachtwandlers ergriffen? Ach, meine Sinne sind mir zerrüttet - und meine Seele glaubt nur an Träume!"

"Leider Wirklichkeit, edle Frau!" entgegnete der Burgvogt und blickte wehmütig zur Gebieterin nieder. "Was ich Euch zu sagen weiß, ist kurz und schauerlich. Das Gewitter entlud sich über Schwabeck. Der Blitz fiel nieder und entzündete das Schloß. Verwüstet liegt es jetzt und öde. Aber wie? Spracht Ihr nicht eben von der Bosheit des wilden Ritters? Ihr scheint wohl mehr zu wissen?"

Die Gräfin überging absichtlich, wie es schien, und von andern Gefühlen und Ahnungen getrieben, die vorschnelle Frage des alten Simon und forschte hastig dagegen, indem sie sich voll heißer Erwartung von der Schwelle des Gewölbes erheben wollte: "Wo ist Gisela? Wo ist mein Kind? Sie sind doch beide gerettet?" Traurig stand der Schloßvogt, verbarg mit zitternden Händen sein Angesicht, um die große Träne auf der eingefallenen Wange zu verdecken und wollte lang nicht reden. Ludmilla blickte zu ihm auf mit dem vollsten Ausdrucke des unsäglichsten Schmerzes, der bittersten Ahnung eines geschehenen Unglücks. Endlich sagte sie:

"Ihr habt mir nichts gutes zu verkünden, Alter, das weiß ich wohl! Doch redet immerhin. Ich bin in diesen schauerlichen Stunden schwerer Prüfungen auf jede Trübsal gefaßt! Ach, welch manchem Unheil wird ich von nun an noch entgegensehen müssen!" Da dachte Simon in seinem schlichten Sinne: "Lieber jetzt auf einmal ein ganzer Tränenstrom des Kummers und Herzeleids aus den schönen Augen der schwergeprüften Burgfrau herausgelockt, als täglich und stündlich mit neuen Schreckenskunden das einmal zerrissene und wieder vernarbte Herz aufzureißen. So sei es in Gottes Namen!" - Und er berichtete der aufmerksamen, schluchzenden Ludmilla: "Gestern abends, einige Stunden vor dem entsetzlichen Brande, sah ich im Schloßhofe beisammen stehen den geheimnisvollen Schwarzkünstler Matthä Dampf, dem der gnädige Graf Wernher vor seiner Abreise allzu freigiebig eine Herberge im Schlosse angewiesen und den zweideutigen Fischveit von Costnitz, der schon manches Unheil unter den friedlichen Menschen angestiftet. Sie pflogen miteinander unter Fluchen und Verwünschungen, wie ich aus den Gebärden ersah, eine geheimnisvolle Unterredung, nach der Matthä Dampf in Hinterhalt trat, als Siegmund Gäßler nahte. Der Veit besprach sich mit diesem geraume Zeit und ging endlich in die Torstube, in wilder Freude sich erlustigend bei Spiel und Wein. Endlich kam der schwarze Matthä wieder hervor aus seinem Versteck und eilte mit dem Ritter in das Schloß. - Ich hatte fest im Sinne, Euch aufzusuchen und die sonderbare Zusammenkunft anzuzeigen. Allein da fiel mir schwer aufs Herz, wie Ritter Gäßler alle Schloßbewohner bei Euch verdächtigte, daß ich also nichts ausrichten und nur seine Rache auf mich wälzen würde. - Ich bekreuzigte mich in stiller Andacht, vertraute dem lieben Gott unser aller Schicksal und wollte vorsichtig abwarten, was die Zukunft brächte. Da hat der Allmächtige sich dareingemengt mit der Schickung des grausenhaften Unglücks. Das Gewitter der schreckensvollen Nacht zündete, Schwabeck stand in gräßlichen Flammen. Heulend liefen wir durcheinander und schrien nach den teuren Wesen, die das Schloß bewohnten. Ich stieg die Wendeltreppe hinauf, so schnell es meine zitternden Füße erlaubten. Die andern folgten mir. Wir suchten und riefen: Wo ist Gräfin Ludmilla und ihr Kind? Wo ist Gisela? - Aber der Qualm des Brandes und stinkender Schwefeldampf trieben uns betäubend zurück in den Schloßhof. Da sahen wir händeringend das Fräulein Gisela, jammernd nach der edlen Schwägerin und ihrem Söhnlein. Sie eilte noch einmal in das Schloß zurück über die Wendeltreppe - und kam nimmer wieder. Gleich darauf erschien Gäßler, fluchend und wild empört. Sein Gesicht war verzerrt, wie das eines Bösewichts. Der weinende Ulrich lag festumklammert auf seinen starken Armen und hohnlachend eilte der Wilde aus dem Tore, das Freie suchend. Zum Allmächtigen betend standen wir in der gräßlich beleuchteten Ferne. Endlich verließen auch die Reisigen die schaudervolle Stätte, ihre wenigen Habseligkeiten rettend und suchten Heil in schneller Flucht. - Frühmorgens durchschlich ich, wie ein Geächteter, die rauchenden Ruinen. Es herrschte eine Totenstille. Matthä Dampf und der Fischveit waren nirgends mehr zu sehen. Müde und weinend und in der Gewißheit, die gräflichen Bewohner samt den verschmitzten Männern seien von den Trümmern verschüttet, ergriff ich den Wanderstab. - Euch aber hat Gott gerettet, edle Frau! So möge der Herr der ewigen Erbarmung auch fürder Euch geleiten!"

In stummem Nachdenken hatte Ludmilla der Erzählung des Schloßvogts zugehört. Nun aber erhob sie sich von der eisernen Schwelle. Ihr Schmerz über den Verlust der geliebten Wesen war betäubt durch die plötzliche Enthüllung feindseliger Ränke eines Mannes, der ihr zum Schutzherrn war gegeben worden. "Nun ists mir klar," rief sie und rang die Hände, "ich habe einen Unmenschen beherbergt in meiner Burg. Das Schreckliche, das ich in den Stunden der Nacht vor dem Gewitterbrande erfahren, im Einklang mit Eurer grauenhaften Erzählung, alter Simon, verbreitet ein Licht in meiner Seele, das verzehrender wirkt, als die gräßlichen Flammen auf Schwabeck. - Doch soll der entbehrende Vorfall nie über meine Lippen kommen und ein marterndes Geheimnis bleiben, das schnell zehrte und nage an meiner Lebenskraft, daß ich bald, recht bald vereinigt werde mit meinem Herrn und Gemahl, dort über dem Grabe, wo die selige Belohnung meiner harrt für die vertrauensvoll überstandene schwere Prüfungszeit dieser irdischen Tage." Und ein Strom von Tränen entquoll den müden Augen der unglücklichen Ludmilla. Aber der Schloßvogt sah sie betroffen an und fragt:

"Wie soll ich Eure Rede verstehen? Graf Wernher tot?" "Du sagst es," entgegnete die Gräfin und zog die Schärpe, die sie vor kurzem dem Scheidenden gegeben, aus den Falten ihres Nachtgewandes. "Graf Wernher tot - und seine Gattin eine vom Unglück Geächtete! Gisela begraben unter dem Schutte der Burg - das Knäblein Ulrich, der Sprosse des alten, edlen Geschlechtes, in den Händen seines Feindes, der in Rachgier und Mordlust es zu Tode würgen wird, um als gewaltiger Räuber der Herr seiner Güter zu werden. Ich durchschaue in diesem Augenblicke, wie noch nie, den ganzen fürchterlichen Plan! - Barmherziger Gott, alle Hoffnung ist verloren!" Der alte Simon sank in seine Knie und blickte flehend zum Himmel. Ludmilla starrte gedankenlos in jene Gegend, über die vor kurzem der graue Turm von Schwabeck majestätisch hinwegschaute. Es herrschte geraume Zeit eine schwermutvolle Stille.

"Was nun anfangen?" Mit dieser bangen Frage weckte der Schloßvogt die arme Gräfin aus ihrem inneren Leiden. Und sie erwiderte mit einem Lächeln, aus dem zugleich tiefer Kummer und tröstliche Geistesruhe blickten:

"Auf den Herrn vertrauen, der seine menschlichen Geschöpfe nicht verläßt, wenn sie kindlich und glaubensvoll sich ihm in die Vaterarme werfen!" - Dann fuhr sie fort: "Soll ich zurückkehren? Hilfe suchen auf irgend einer nachbarlichen Ritterburg? So werd ich mich neuerdings der Verfolgung des Mannes aussetzen, der mir Reinheit und Frauenwürde rauben wollte, und weil er es nicht vermochte, mich nun ohne Kind und Schwägerin hinausstieß in das wüste Elend, und alles, was mein ist, in verwegener Rachgier seine gerechte Beute nennen wird. Eines nur bleibt mir jetzt noch übrig - die stille Zelle irgend eines Frauenklosters.

Dort will ich beten für mein armes, verlassenes Knäblein; beten, daß der Herr es eher zu sich hole, als in den Armen des wilden Ritters unter Fluch und Schande erwachsen lasse; beten will ich dort um eine freudenvolle Auferstehung für Wernher und Gisela; beten für mich um Trost und Ergebung bis zu einem seligen Ende; beten - oh Allbarmherziger, gib mir die Kraft, beten selbst für den, der all dies schreckliche Unheil über Schwabeck verhängt, für die Seele meines Feindes, daß sie sich bekehre und nicht verloren gehe!"

Nach dieser Rede sank die Gräfin erschöpft zur Erde nieder. Der Burgvogt aber faßte sie ehrerbietig und gelinde unter den Armen und führte die von Kälte, Schwäche und Ermattung Zitternde zur belebenden Glut, die seitwärts unter den zugelegten, dürren Reisern knisterte. - Hier kam Ludmilla wieder zu sich, nahm einige Erquickungen aus der Reisetasche des Burgvogts und fuhr fort: "Alter, treuer Simon, den mir der liebe Gott auch in dieser Stunde der Trübsal gnädiglich zugesandt, Eure unglückliche Gebieterin flehet zu Euch um die Erfüllung des letzten Dienstes. Ich habe schon oft gehört, an der Sankt Mangkirche in Sankt Gallen seien gar viele niedliche Klausen und Zellen angebaut, darinnen, gottgeweihte Mädchen und schwergeprüfte Frauen, die der Welt den Scheidebrief gegeben, ein stilles, klösterliches Leben führen. Dorthin geht meine Sehnsucht, mein einzig Verlangen. Unter Eurem Schutz wird das wehrlose, schwache Weib sein irdisches Ziel erreichen. Führet mich dahin, Simon, eingedenk der Wohltaten, die Graf Wernher Euch verliehen und hoffend auf den Lohn, den der liebe Gott dem verheißen, der sich mildtätig annimmt einer verlassenen, trost- und hilfelosen Witwe."

Der Schloßvogt bot schluchzend der flehenden Gräfin die Hand und erwiderte: "So ich vergessen würde, daß ich Euer Diener bin, möge mich der Allmächtige strafen. Das herbe Unglück einer guten Herrschaft entbindet mich nie und nimmer meiner Pflichten. Ich stehe zu Eurem Willen und Gebote und danke dem lieben Gott, daß er meine alten Füße hierher geleitet." Nun bereitete er ein kärgliches Mahl, und nach Verlauf einer Stunde schickten sich die Gräfin und ihr Führer unter Anrufung des göttlichen Schutzes zur Wanderung an. Die Herbstsonne hatte den Sieg davongetragen über den Hochnebel, der um die Gipfel der Eichen und Tannen dampfte und sandte ihre milden Strahlen hernieder, die Glieder der Pilger zu erwärmen und ihr Antlitz und ihre Seele zu erheitern, soviel es in solch trauriger Lage geschehen konnte.

Schon wollte Ludmilla gefaßt und ruhig weiterziehen, da kam ihr noch einmal das Unglück ihres geliebten Söhnleins zu Sinnen - und ein gewaltiger Kampf fesselte sie abermal an die Stelle. Es war ihr im Augenblicke, als könnte, als dürfte sie nicht von dannen, als müßte sie den wilden Gäßler aufsuchen, das Kind von ihm erbetteln, oder von dem Dolch des Feindes durchbohrt, mit ihrem teuren Unterpfande verbluten. "Ist er nicht ein Mensch?" rief sie begeistert mitten in ihrem Schmerze. "Hat ihm nicht der ewige Schöpfer ein Herz gegeben mit Empfindung und Gefühl? Und sollte denn dieses Herz durch, die Masse ruchloser Taten so sehr versteinert worden sein, daß es der blutigen Tränen einer verzweiflungsvollen Mutter nicht mehr zu achten vermag? Ich will ihm nacheilen, dem pflichtvergessenen Ritter! Wo er sich auch verbergen mag - zu seinen Füßen soll er mich kriechen sehen wie eine Bettlerin! Alles, Hab und Gut, will ich ihm lassen zum Eigentum, und mit herzzerreißender Bitte nichts von ihm zurückfordern, als mein Kind, mein einziges armes Kind!"

Allein, da sie kaum den heldenhaften Plan gefaßt, schauderte sie zusammen. Denn sie gedachte dessen, was im Ahnensaale zwischen ihr und Gäßler vorgefallen. "Nein," rief sie, und ein neuer Tränenstrom benetzte ihr blasses Wangenpaar, "nein, ich kann, ich darf nicht! Der Weg zu ihm ist der Schlangenpfad in das Grauen der Versuchung! Nicht Hab und Gut, nein, meine Ehre wird er fordern für die Zurückgabe, des Söhnleins. Und was ich ihm verweigere, wird der Schändliche mit Gewalt erzwingen wollen. Ludmilla, in Gottes Namen! Wende dein Herz und deinen Blick nach der Friedensstätte in Sankt Gallen! - Du aber Wernhers seliger Geist, umschwebe deinen Knaben mit den Flügeln eines schützenden Engels, und bewahre ihn unschuldig und fromm zu unserer Wiedervereinigung!"

Jetzt kniete sie nieder und betete ein kurzes Gebet. Und aufs neue beruhigt und gestärkt erhob sie sich, nahm den Pilgerstab, den Simon aus dem Gesträuche des Ahorn ihr geschnitten - und wanderte mit dem alten, getreuen Geleitsmann von dannen. Es gab manche schwere Stunde und manch trüben Tag, bis endlich das Ziel der Ruhe, das ehrwürdige Kloster von Sankt Gallen mit seinen Ringmauern und grauen Türmen in der herbstlichen Abendbeleuchtung den Wandernden entgegenblickte. Ludmilla wurde in der Zelle einer alten Waldschwester freundlich aufgenommen und ihr Angesicht alsobald mit einem schwarzen Schleier verhüllt, der bis zu den Füßen niederfloß. Tags darauf nahm der alte Simon Abschied von der gräflichen Gebieterin, und fand diese schon gänzlich eingekleidet in das Gewand der lebensmüden Zellenfrauen. Er stellte sich, die Mütze unter dem Arme, wehmütig und schluchzend neben sie, da sie in der Reihe der ändern zum Frühgebete der Kirche zuwankte und fragte leise: "Habt Ihr, ehrwürdige Frau, dem ehemaligen Schloßvogt von Schwabeck nichts mehr zu gebieten?" - Da flüsterte Ludmilla - eine Träne feuchtete den Schleier - in abegrochenen Worten dem treuen Diener zu: "Simon, ich bitte Euch, noch einen Weg zu machen für die arme Klausnerin! Ich kann mein Söhnlein nicht vergessen! Vielleicht wird Euch eine Kunde von ihm zuteil! Ob er lebt; wie es ihm geht; oder ob die kalte Erde den zarten Leib schon aufgenommen! Wenn Ihr was wißt, eilet hierher, die betrübte Mutter zu trösten oder zu beruhigen! Auch wenn Ihr nichts wißt, kommt und besuchet mich! Es tut dem verwundeten Herz schon wohl, wenn es erfährt, daß ein treuer Mann sich Mühe gegeben, mit dem Balsam freundlicher Teilnahme es heilen zu wollen. Gehabt Euch wohl! Geht mit meinem Segen, im Andenken an meine stillen Tränen! Der barmherzige Gott geleite Euch!" Nachdem sie so gesprochen, stand sie in der Kirche, deren Pforte gleich darauf verschlossen ward. Aber der alte Burgvogt starrte noch lang an der Stelle, wo er Ludmilla zum letztenmal gesehen; und es ward ihm fast, als sei ein schwerer, langer Traum in den Begebenheiten dieser Tage an ihm vorübergegangen. Doch mußte er sich leider im nächsten Augenblicke immer wieder von der Wahrheit der schauerlichen Dinge überzeugen, und tröstete sich endlich mit den Worten: "Der Herr des Himmels, in dessen Hand wir stehen, wirds recht machen!" - Er betete draußen vor der Tür der Kirche, während innen der Gesang der Klausnerinnen dumpf und feierlich durch die bemalte Wölbung tönte. Endlich erhob er sich - der Gottesdienst ging zu Ende - und eingedenk der Mahnung seiner edlen Ge,bieterin verließ er die Hütten und Zellen der Waldschwestern am Kloster von Sankt Gallen.